The Grand Old Meltdown

The Flight 93 Convention

Zugegebenermaßen habe ich nicht viel über die amerikanischen Parteiversammlungen gelesen. Aber diese beiden Texte: Oben beschreibt Tim Alberta (dessen Buch „American Carnage“ ich gerade sozusagen als vorläufigen politischen Schlussstrich unter meine US-Zeit lese), wie ausgehöhlt die Republikaner sind. Ideenlos, ohne Lösungsvorschläge, nur „Owning the libs“ und Machterhalt als Kern.

Der Artikel darunter greift das Motiv von „Flug 93“ auf. Das war 2016 das Bild in einem konservativen Aufsatz, der zur Trump-Wahl aufrief (der zunächst anonyme Autor gab sich zu erkenne und bekam später einen Job im Weißen Haus). Wie bei dem Passagierflug an 9/11 gehe es darum, die Entführer (die Demokraten) zu überwältigen und den Flieger zum Absturz zu bringen, bevor er die staatlichen Grundfeste (im Falle von Flug 93 das Pentagon, im Falle der US-Politik ein Umbau des Staates nach dem Wunsch der bösen, bösen Demokraten) zum Einsturz bringt. So lässt sich auch das Motto der Republikaner und des Parteitags für 2020, es geht um geschürte Existenzangst, gemeint ist die kulturelle und auch offen ethnische Existenz.

Die Metapher sagt eigentlich alles, gerade in ihrer fehlenden Durchdachtheit. Was passiert, wenn der Flieger zerschellt? Und was heißt es, dass das ganze Land mit im Flugzeug sitzt und draufgeht? Politischer Nihilismus im amerikanischen Stil.

 

Corona-Regeln: Der Föderalismus funktioniert by Josef Kelnberger ([object Object])
Bund und Länder suchen nach Grundlinien zur Pandemiebekämpfung. Angesichts steigender Infektionszahlen ist das richtig.

Dieser Wunsch nach völliger Einheitlichkeit, de facto nach Zentralisierung im Sinne des französischen Modells besteht ungefähr seit den zweiten Corona-Lockerungsmaßnahmen. Es ist ein irritierender Wunsch: Es gibt einfach legitime regionale Unterschiede, sei es von der politischen Herangehensweise, oder, wichtiger, beim Infektionsgeschehen.

Josef Kelnberger von der SZ sieht das offensichtlich ähnlich. Er kommt zu dem Schluss:

„Die ‚Verantwortungslosigkeit‘ jedenfalls, die Markus Söder nun allenthalben beklagt, ist Kehrseite einer Politik, die den Menschen zu Beginn der Pandemie den Eindruck vermittelte, sie nehme ihnen alle Entscheidungen ab.“

Ich kann ihm nicht widersprechen.

Berlin verbietet Corona-Demonstrationen am Wochenende by tagesschau ([object Object])

Der Berliner Innensenator liefert den Vertretern der Demokratieverachtung mit seiner fragwürdigen Begründung für das Demoverbot Futter. Denn die Vermischung von politischen und gesundheitspräventiven Gründen lässt Covid-19 wie ein Werkzeug erscheinen, das Recht auf Versammlungsfreiheit einzuschränken. Wenn es intern die Sorge gibt, dass die Durchsetzung von Hygienemaßnahmen bis hin zur Demo-Auflösung für die Polizei unangenehm bis gefährlich werden könnte, ist das ein Argument. Eines, dass dann auch so benannt werden sollte. Und selbst dann ist die Frage, ob diese Art der Prophylaxe wirklich als Begründung genügt.

Niemand sollte Demonstrationsverbote aus Covid-Gründen leichtfertig beklatschen.

QAnon looms behind nationwide rallies and viral #SavetheChildren hashtags by NBC NBC ([object Object])

Mitte Juli löschte Twitter Konten rund um die QAnon-Verschwörungstheorie, vergangene Woche zog Facebook nach. Zu spät. QAnon ist eine politische Bewegung geworden, in Georgia wird man wohl die erste Kandidatin in den Kongress schicken, die sich mit der Bewegung identifiziert. Die wirkliche Verbreitung ist natürlich weiterhin schwer von den Symbolen der Bedeutungshoheit bzw. Datenbank-Massage zu trennen; gleichzeitig ist die Haltung „gibt’s ja nur im Internet“ bei globalen viralen Phänomen nicht mehr besonders zielführend.

Es gibt eine ganze Reihe von Tangenten, deren Untersuchung sich lohnt: QAnon als Augmented-Reality-Hobby, als politische Bewegung mit missionarischem Charakter und dadurch letztlich als (Polit?-)Sekte mit Endzeit-Erwartungen. Der offenbar erfolgreiche Versuch, via Social Media Cluster von Aktivisten und Organisationen zu unterwandern, die sich gegen sexuelle Gewalt gegen Kinder einsetzen (eine Strategie, wie sie auch Impfgegner einsetzen). Die Memefizierung der Welt. Der Opportunismus der amerikanischen politischen Rechten beim Umgang mit vielversprechenden politischen Randphänomen, von Justin Amash und der Tea Party über Trump und die Birther-Bewegung bis womöglich jetzt zu QAnon.

How Much Things Can Change by Rodney BrooksRodney Brooks (rodneybrooks.com)

Rodney Brooks mit einer kleinen Denkfigur über wissenschaftliche Erkenntnisse. Genauer: Wie viele der wissenschaftlichen Paradigmen uns „ewig“ vorkommen, in der Realität aber erst während der Lebensspanne gefunden wurden, die von seinen Großeltern bis zu ihm selbst reicht. In den vergangenen 130 Jahren also.

Beueler Extradienst by Martin Böttger u.v.m (extradienst.net)

Manchmal passiert es noch, dass ich auf interessante politische Blogs stoße. Zum Beispiel jetzt auf Beueler Extradienst, herausgegeben von Martin Böttger, offenbar aus dem Bonner Dunstkreis der Grünen. Genau meine Posting-Länge, Gedanken statt Aufregungs-Köder. Wieso kannte ich das nicht? Kennen das andere? Gibt es vielleicht eine unentdeckte deutsche Politik-Blogosphäre? Ich habe viele Fragen (und habe das Blog in meinen Feedreader gepackt).

Unveiling Our New Modernity by Jonathan TeubnerJonathan Teubner (hedgehogreview.com)

„I suspect that we are coming to see our world as increasingly discontinuous with the twentieth century, and COVID-19 is just one of the many breaking points. Pax Americana has for some time now been an unconvincing description of the twenty-first century. Indeed, appeals to the mass mobilization and solidarity that accompanied the second World War are becoming increasingly incredible. If our current political order is upended, we are unlikely to think of it as the COVID-19 disruption. It will be bigger than that. The signs of larger shifts are already in the works. Oddly enough, “Brexit” now oddly seems to belong to a previous age, when European Union rules, processes, and treaties were effective norms for debating its value and consequences.“

Wie fair ist China? by Die ZeitDie Zeit (zeit.de)

Der aktuelle Blick der deutschen Wirtschaft auf China entlarvt etwas aus den vergangenen 25+ Jahren. Aber was ist es? Naivität? Kurzsichtigkeit?

Marktzugang mit Informationen zu bezahlen, hat sich für den deutschen Export durchaus gelohnt, wenn wir die Besetzung internationaler Kernmärkte als Ziel definieren. Aber die Hoffnung, irgendwann Zugriff ohne Zwangs-Kooperationen zu erhalten; die Vorstellung, nicht klassisch von unten die Christensen’sche Disruption der eigenen Produkte zu erleben, seien sie auch noch so komplex: das war Wunschdenken.

Die chinesische Geo-, Wirtschafts- und Menschenrechtspolitik wird noch stärker als heute ein deutsches Mega-Thema. Und es wird nur eine feine Linie sein, die realistische Einschätzungen von politisch instrumentalisierter Sinophobie trennt.

Xi Jinping is trying to remake the Chinese economy by The EconomistThe Economist (economist.com)

Kabozi Jishu: Derzeit häufig verwendeter chinesischer Begriff – übersetzt ungefähr „umklammernde Technologie“/“Technologie-Umklammerung“ oder, wer es martialischer mag, „Würgegriff-Technologie“. Statt ganze Sektoren anzugehen, priorisieren Wirtschaftsplaner spezielle Schlüsseltechnologien wie Jet-Turbinen, Präzisionsphotolithographie für Halbleiter, Hochgeschwindigkeits-Kugellager für Maschinenwerkzeuge. Diese sind Basis-Technologien für ganze Branchen und deshalb ist es entsprechend wichtig, sie im Wettbewerb um technologische Hoheit (mit den USA und anderen Ländern) zu besetzen.

A Historian of Economic Crisis on the World After COVID-19 by Eric LevitzEric Levitz ([object Object])

Nachgereicht ein Interview mit Adam Tooze. Zitat:

„Most emerging market economies have demonstrated a remarkable capacity to cope with the crisis and mounted a very considerable fiscal-policy stimulus. Some have even engaged in forms of quantitative easing. And so they’ve refuted the most apocalyptic vision of globalization, which would deny them this kind of agency. That, to me, is the single most important break in the ideology of the 1980s and 1990s. Does that open the door to a more progressive politics? Of course it might. But it would take politics to exploit that opportunity.“

Nationen sind fiskalpolitisch äußerst handlungsfähig – gerade in den Schwellenländern war diese Feststellung angesichts des Konsens der vergangenen Jahre alles andere als unumstritten. Ob Covid-19 global das Ende der Austerität als Leitmotiv wirtschaftspolitischen Handelns bedeutet, ist noch nicht gesagt. Vielmehr könnte es so sein, dass sich das Dogma auf Seiten der Wirtschafts-/Fiskalpolitik weiter auflöst, uns politisch aber erhalten bleibt.

Siehe auch

Strategie vs. Reaktion