Bürger, teilt eure Daten!

Sandra Kegel, Feuilleton-Leiterin bei der FAZ, findet den Datenschutz der Corona-Warn-App problematisch. Ihre Forderung:

Würde man ihnen [den Gesundheitsämtern] Zugriff auf die App-Daten gewähren, hätten sie hierzu ein schlagkräftiges Instrument zur Hand. Längst wird diskutiert, ob zur Infektionsbekämpfung der Polizei Zugang gewährt wird zu Privaträumen. Dann doch lieber ein temporärer Zugang zu Geo- und Kontaktdaten.

Das Problem: Die Corona-Warn-App sammelt diese Daten gar nicht, sie kann es über die entsprechende Schnittstelle auch nicht.

Aber weiter im Text:

Überhaupt fragt man sich, warum in diesen Krisenzeiten unsere analogen Freiheiten wie die Bewegungsfreiheit ganz schnell eingeschränkt werden konnte, während wir digital bislang relativ unberührt geblieben sind.

Das ist ein seltsames Argument: Wenn schon Freiheiten einschränken, dann richtig? Der Unterschied zwischen analog und digital ist natürlich etwas altbacken, aber ich möchte anmerken, dass eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit eine Sache ist, das Auslesen eines Bewegungs- und Kontaktprotokolls aber eine andere, nämlich im Sinne der informationellen Selbstbestimmung eine verfassungswidrige. Aber wie gesagt: Die gewünschten Daten stehen hier gar nicht zur Verfügung.

Ich habe damals zum Start im DLF kommentiert:

„[Es ist] ein Kompromiss zwischen dem, was technisch machbar, bürgerrechtlich wünschenswert und epidemiologisch notwendig ist. Mit einer deutlichen Gewichtung der Bürgerrechte: Mancher in Robert-Koch-Institut und Gesundheitsministerium hätte sich gewünscht, Daten aus der App zu erhalten. Denn ein digitales Abbild der Infektionsentwicklung hilft dabei, die Verbreitung des Virus besser zu verstehen.

Diese komplexe Debatte scheute die Regierung am Ende. Auch aus Furcht davor, das Vertrauen der Bürger zu verspielen. Eine Diskussion über die Abwägung zwischen 100prozentiger Datensparsamkeit und wissenschaftlicher Erkenntnis: Das hätte sich Deutschland leisten können.“

Das bezog sich allerdings auf den Kontext epidemiologische Analyse, nicht auf Kontaktnachverfolgung durch ex-post Überwachung. Jetzt ist die Debatte da, aber sie ist nicht nur angesichts der API weitestgehend müßig, sondern wird auch – die obige Wortmeldung ist nicht die erste dieser Art – teilweise ohne große Kenntnis der Materie geführt.

Pandemic Fatigue Is Real—And It’s Spreading ($)

Dem Wort „pandemiemüde“ werden wir in den nächsten Wochen und Monaten häufiger begegnen. Wir können natürlich so tun, als würde sich die ganze Pandemie entlang der Pole Verantwortungsbewusstsein vs. Verantwortungslosigkeit und Gemeinwohl vs. Egoismus abspielen. Hilfreicher wäre es, die Komplexität der menschlichen Gefühlswelt nicht nur bei sich selbst wahrzunehmen.

Tod eines Lehrers

Zunehmend muss man sich im Klassenraum AKP-Propaganda erwehren und sieht sich Schülern (alle männlich) gegenüber, die die Größe der türkischen Nation verteidigen, als ob sie sie persönlich beträfe – obwohl sie oft schon in der vierten Generation hier leben! Gleichzeitig geht damit eine Verherrlichung patriarchalischer Lebensformen einher. Ich bemerke im Unterricht etwa zunehmend offen, geradezu herausfordernd vorgetragene Forderungen nach der Entrechtung von Frauen. Die Vorstellung, dass Homosexuelle Rechte hätten, wird geradezu mit Abscheu begegnet.

Lesenswert von Stefan Sasse. Politischer Religionsfundamentalismus ist seit längerer Zeit ein Exportschlager aus Saudi-Arabien und der Türkei. Und wie jeder Versuch, die eigene Identität und politische Ziele aus religiöser (oder: religiös-verbrämter) Unerbittlichkeit abzuleiten (vgl. zum Beispiel die Hardcore-Evangelikalen), ist das gesellschaftlich brandgefährlich.

Unlimited Information Is Transforming Society

Faszinierende Kartierung technologischer Entwicklungen: Nach welchen Mustern verlaufen sie, und umgekehrt, welche Muster sollte man nicht verallgemeinern?

In one sense, the history of the Internet is the opposite of electricity’s: the private sector developed electrical generation, but it took the government to distribute the product widely. In contrast, the government developed the Internet, but the private sector delivered it into our homes—a reminder that casual generalizations about technology development are prone to be false.

Das hätte auch in einen Tweet gepasst, aber man muss die Maschine nicht füttern: Dass Twitter jetzt auffällt, dass ihre Anti-Hacking-Klausel zum Beispiel die Wikileaks-Enthüllungen geblockt hätte, ist… tja, typisch für dieses Unternehmen, das sich nie aus der Perspektive „Software-löst-alles“ lösen konnte, ohne eine entsprechende Software zu entwickeln.

Klar: Die Twitter-Probleme sind komplex (Moderation unter Skalen-Bedingungen und auf einem schmalen Grat rund um Meinungsäußerungen). Aber die müssten gar nicht so komplex sein, ich würde Twitter auch so keine Lösung zutrauen, solange Jack Dorsey das Unternehmen führt.

The West Wing war unterhaltsames, harmloses Fernsehen – der Bogen der Geschichte weist zum Guten, Menschen sind schwach, aber lernfähig, undsoweiter. Sonst hätte NBC die Serie nie ausgestrahlt. Die Serie zeigt eine Demokratie, in der es letztlich mehr um höhere Prinzipien als um niedere Machtinstinkte geht; in der die Charaktere in Erinnerung bleiben, nicht die Politik, die sie machen oder die Veränderung, die sie bewirken. Letzteres macht sie zu einem Abbild der Clinton-Jahre.

Ich habe The West Wing damals sehr gemocht und finde die Serie weiterhin interessanter als überzeichnete Macht-und-Messer-Dramen wie „House of Cards“. Und doch wirkt die oben Neuauflagen-Nostalgie 2020 wie ein erkaltetes Lagerfeuer.

Natürlich, weil sich die politische Realität in den USA anders zeigt (was aber bereits unter Bush/Cheney der Fall war und den Reiz für West-Wing-Fans ausmachte). Aber auch wegen der Fixierung der Serie auf das vorwiegend Prozesshafte des Politischen, Aaron Sorkins Fetisch, den Figuren elegante und schlaue Wort in den Mund zu legen, ihnen aber darüber hinaus nur die Rolle von Polit-Managern und Verwaltern des Status Quo zu geben.

Das hat natürlich damit zu tun, dass die Serie keine eigene Realität außerhalb der Wände des Weißen Hauses erschaffen konnte. Und auch mit Sorkins politischer Haltung. Es wirkt aber auch auf seltsame Weise unpolitisch. Nicht im Sinne fehlender Polarisierung oder Rücksichtslosigkeit, sondern im Sinne fehlender Ideen, für was eine Regierung eigentlich da ist – jenseits davon, kleine Anpassungen vorzunehmen und rhetorisch die Werte des Landes zu beschwören. Was auch dem damaligen Zeitgeist entspricht.

The I in the Internet

In part out of a desire to preserve what’s worthwhile from the decay that sur­rounds it, I’ve been thinking about five intersecting problems: first, how the internet is built to distend our sense of identity; second, how it encourages us to overvalue our opinions; third, how it maximizes our sense of opposition; fourth, how it cheap­ens our understanding of solidarity; and, finally, how it destroys our sense of scale.

Jia Tolentinos Essay aus dem Februar (Teil einer jüngst erschienenen Sammlung) ist eine strukturierte Erzählung und Meta-Theorie, wie das (kommunizierende) Internet das wurde, was es ist. Von Geocities über Gamergate bis in die Gegenwart.

Ein kluges Stück, auch wegen einer entwaffneten Ratlosigkeit, ob die Frage „Wie wurde das Internet, was es ist?“ überhaupt eine produktive Beschäftigung ist. Ich empfehle es sehr. Gerade wegen dem Zusammenwirken von Beobachtung, Struktur und sprachlicher Klarheit.

The internet reminds us on a daily basis that it is not at all reward­ing to become aware of problems that you have no reasonable hope of solving.

The house party returns

Trotz Wirtschaftskrise steigen in den Industrienationen die Immobilienpreise – in Deutschland zuletzt um 11 Prozent. Allerdings geht der Niedrigzins offenbar im Schnitt nicht mit einer größeren Kredit-Zusage der Banken einher. Ich würde also schlussfolgern, dass es für Normalverdiener schwieriger wird, sich ein Haus zu leisten.

Der Economist hat das Ganze aufgeschrieben. Vor ein paar Jahren noch hätte das Fazit dort gelautet: 1) Vorsicht vor Blasen 2) Wir brauchen mehr Bauland. Heute lautet es: 1) In der Spreizung liegt sozialer Sprengstoff 2) Regierungen müssen den Immobilienmarkt stärker regulieren.

Die Zeiten ändern sich.

Beschlüsse zu Corona-Maßnahmen: Wesentliches muss der Gesetzgeber entscheiden
Juristin Andrea Kießling: „Viele Corona-Maßnahmen sind rechtswidrig“ (€)
Corona-Maßnahmen: Das Parlament ist chronisch krank

Drei Stücke formulieren in Monat 7 der Corona-Krise das Unbehagen angesichts der nochmals verstärkten Hegemonie der Exekutive. Das deutsche Verfassungssystem ist, gerade an der Schnittstelle von Legislative und Exekutive, eher eine lose Anordnung als ein festgelegtes System, das zudem noch auf einen Bismarck’schen Ministerialbehörden-Block trifft. Die fortgesetzte Selbstverzwergung hat einerseits Tradition, hat sich andererseits im Corona-Zeitalter verstärkt, da hier schnelle Entscheidungen geboten scheinen.

Das erscheint logisch, ist aber nicht nur rechtlich problematisch, sondern auch institutionell: Dinge können sich einschleifen, politische Praxis verliert die Bindung an eigentlich notwendige Prozesse; das gilt für die Entscheidungen der Exekutive selbst, wenn sie zum Beispiel wie in Bayern keine verschriftlichten Entscheidungsgrundlagen vorlegen kann oder will.

Update, 4. Oktober, 22 Uhr: Der geschätzte Stefan Kalhorn hat sich die Mühe gemacht, auf die Argumente in den verlinkten Stücken einzugehen und größtenteils zu widerlegen.