Zu den Krankheiten meiner persönlichen Gegenwart gehört nicht nur die Zeitverdichtung, sondern auch die sich aus ihr ergebende Mechanik. Informationen zu verarbeiten ist nicht dasselbe wie Nachdenken. Ich würde sogar soweit gehen, zu behaupten, dass Luxus heute nicht mehr wie noch vor 15 Jahren in Zeit besteht; sondern in der Möglichkeit, sie zum Nachzudenken zu nutzen.

I/O, also Input und Output, ist bei mir berufsgemäß, aber auch bei allen anderen Teilnehmern der Internet-Öffentlichkeit, der gängige Modus. Dazwischen wäre das Denken, genauer gesagt das „Denken für sich selbst“ und nicht für die Veröffentlichung. Doch dieser Zustand fehlt, so wie ein Transistor nur 0 und 1 kennt.

Can History Predict The Future?

„Of the three factors driving social violence, Turchin stresses most heavily “elite overproduction”—­the tendency of a society’s ruling classes to grow faster than the number of positions for their members to fill.“

Faszinierendes Stück über Peter Turchin, einen ehemaligen Ökologen, der 2010 die US-internen Konflikte von 2020 recht gut vorhergesagt hat. Der „Überschuss von Eliten“ ist auch in Deutschland erkennbar, oder zumindest ein Überschuss an Akademikern. Sei es an Zeitverträgen, dem akademischen Mittelbau, der Überqualifikation oder der Überalterung von Führungsstrukturen. Und natürlich ruft das Konflikte hervor. Übrigens nehme ich an, dass Ultrarechts und Ultralinks sich schnell darauf einigen könnten, dass wir weniger „Eliten“ bräuchten.

Aber das nur am Rande. Der Artikel ist einer der besten, den ich in der vergangenen Monate gelesen habe. Denn im Kern geht es darum, ob sich Geschichte mathematisch modellieren lässt, wenn sich nur die richtigen Inputs finden. So sagt Turchin:

“All sciences go through this transition to mathematization. When I had my midlife crisis, I was looking for a subject where I could help with this transition to a mathematized science. There was only one left, and that was history.”

Die Mathematisierung der Geschichtswissenschaft und ihre Grenzen, sozusagen. Dazu ist Turchin ein schrulliger Typ. „Some historians regard Turchin the way astronomers regard Nostradamus“, wird ein anderer Historiker zitiert. Sehr spannend und vergnüglich.

Trump is attempting a coup in plain sight

„It’s the construction of a confusing, but immersive, alternative reality in which the election has been stolen from Trump and weak-kneed Republicans are letting the thieves escape. This is, to borrow Hungarian sociologist Bálint Magyar’s framework, “an autocratic attempt.” That’s the stage in the transition toward autocracy in which the would-be autocrat is trying to sever his power from electoral check.

If he’s successful, autocratic breakthrough follows, and then autocratic consolidation occurs. In this case, the would-be autocrat stands little chance of being successful. But he will not entirely fail, either. What Trump is trying to form is something akin to an autocracy-in-exile, an alternative America in which he is the rightful leader, and he — and the public he claims to represent — has been robbed of power by corrupt elites.“

Der Kampf der Weltanschauungen

„Blätter“-Mitherausgeber Micha Brumlik über die Konfrontation der Weltmächte USA/Westen und China – auf philosophischer Ebene:

„Wenn also Philosophie tatsächlich ihre Zeit in Gedanken gefasst ist, so steht die Weltgemeinschaft derzeit vor zwei radikal differenten Universalismen: einem Universalismus der Würde, Anerkennung, Demokratie, der individuellen Freiheit und Gerechtigkeit auf der einen und einem Universalismus der Wohlfahrt, der bloß materiellen Zufriedenheit sowie zwischenstaatlicher Hilfe auf der anderen Seite.“

Bei genauerer Betrachtung ist dieser Konflikt auch längst in den Westen selbst eingebettet.

„In the past news that reached me from afar was old news. Now, with instantaneous transmission, all news is contemporary. I live in the present, surrounded by present time, whereas not so long ago, the present where I am was an island surrounded by the pasts that deepened with distance.“

Yi-Fu Tuan, Space and Place (via)

Enablement: The tortured self-justification of one very powerful Trump-loathing anonymous Republican.

Geständnisse eines anonymen Trump-Ermöglichers. Lesenswert, aber ich will einen Punkt herausgreifen: Die exzessive Nutzung von Aussagen „Unter Zwei“ während der Trump-Ära, um Kritik zu äußern, obwohl man alles mitmacht. „Unter Zwei“ heißt: wörtlich oder sinngemäß zitiert, aber nicht genannt (im Deutschen: „Kreise“). Die Autorin Olivia Nuzzi rechtfertigt sich so:

My own self-serving justification for granting anonymity to Republicans connected to or able to provide insight into this White House is simple: If the choice is between being lied to on the record or told the truth “on background” (the technical term for anonymity), I will choose the truth every time — even though every time I choose the anonymous truth, I make it easier for this system of secrecy to continue. Actually, that’s too generous. It’s more truthful to say I’m part of a system that enables political leaders to have it both ways, to indulge in ugliness and irresponsibility and to distance themselves from their own actions. The press provides the alibi as it prosecutes the case.

Es gibt einige Dinge, auf die wir uns in den Zwanzigern journalistisch regelmäßig einstellen werden müssen: Offensichtlichere Lügen, die oben beschriebene Form von inoffizieller Distanzierung bei aktiver und offizieller Komplizenschaft, dazu die Versuche, über koordinierte Kontaktanbahnungen (zwei Quellen sind immerhin zwei Quellen) Falsches/Ablenkungs-Spin zu verbreiten, wie es in der Konzern-PR bereits recht perfekt praktiziert wird.