Nicht das echte Leben an sich, aber das technologiekritische Magazin Real Life hört auf.
Kategorie: Tech
Wer die Plattform hat
Apple verkauft als Fortschritt, dass man für ein Abo von Apple Fitness Plus keine Apple-Uhr mehr braucht, sondern nur noch ein iPhone. Ist schon fein, eine Plattform zu haben: Erst verknappt man den Zugang zu einer App, um den Verkauf des Accessoires (Watch) anzukurbeln. Und dann löst man diese Voraussetzung auf – und kann das als Fortschritt verkaufen.
Digitalstrategie
Nimcels
„Niche internet micro celebrities [nimcels] are people online who are known to a small but often dedicated group and they represent a growing variant of the attention economy. Online fame is a consequence for a niche internet micro celebrity, never the goal. They rarely make money from their social accounts, choosing instead to post for the fun of it. The term is often used in a tongue in cheek way.“
Dadurch, das Taylor Lorenz in den Tiefen der Internet-Kultur herum gräbt, kann sie Begriffe wie „Nimcels“ einführen. Ob diesen Begriff wirklich irgendjemand verwendet oder sie selbst oder ihre Freunde das Wort erfunden haben: Es ist kaum nachzuvollziehen und spielt keine Rolle. Das ist wohl das, was man „Clout“ nennt.
(P.S. Weiterhin fehlt in Deutschland jemand, der/die sich journalistisch mit Internetkultur näher beschäftigt und nicht nur Analysen aus der Vogelperspektive verfasst, wie ich das ja auch tue)
Die verlassene Stadt
„As someone who has written a lot about urban abandonment (in my book Four Lost Cities and elsewhere), many of the Twitter abandonment patterns are startlingly familiar. In cities, people usually start to leave when there’s a combination of political instability and infrastructure decay. On Twitter, you’ve got the corporate media equivalent of political instability with Elon Musk’s botched takeover attempt, coming right on the heels of the difficult transition from founder/CEO Jack Dorsey’s reign to current CEO Parag Agrawal’s. And if you think of the Twitter user experience as its social infrastructure, that too is falling apart. There’s the lack of moderation and selective rule enforcement, plus the company’s longtime inability to address user concerns about everything from edit buttons to abuse. (Its technical infrastructure has also had many problems.)“
Aus: Twitter Is Becoming A Lost City
Siehe auch das hier ($). Ähnliche Whistleblower-Vorwürfe bei Facebook, speziell im Bereich Cybersecurity, und die Journalisten und (verbliebenen) Twitterati würden die Wand hochgehen.
Daten, die es gar nicht gibt
Sandra Kegel, Feuilleton-Leiterin bei der FAZ, findet den Datenschutz der Corona-Warn-App problematisch. Ihre Forderung:
Würde man ihnen [den Gesundheitsämtern] Zugriff auf die App-Daten gewähren, hätten sie hierzu ein schlagkräftiges Instrument zur Hand. Längst wird diskutiert, ob zur Infektionsbekämpfung der Polizei Zugang gewährt wird zu Privaträumen. Dann doch lieber ein temporärer Zugang zu Geo- und Kontaktdaten.
Das Problem: Die Corona-Warn-App sammelt diese Daten gar nicht, sie kann es über die entsprechende Schnittstelle auch nicht.
Aber weiter im Text:
Überhaupt fragt man sich, warum in diesen Krisenzeiten unsere analogen Freiheiten wie die Bewegungsfreiheit ganz schnell eingeschränkt werden konnte, während wir digital bislang relativ unberührt geblieben sind.
Das ist ein seltsames Argument: Wenn schon Freiheiten einschränken, dann richtig? Der Unterschied zwischen analog und digital ist natürlich etwas altbacken, aber ich möchte anmerken, dass eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit eine Sache ist, das Auslesen eines Bewegungs- und Kontaktprotokolls aber eine andere, nämlich im Sinne der informationellen Selbstbestimmung eine verfassungswidrige. Aber wie gesagt: Die gewünschten Daten stehen hier gar nicht zur Verfügung.
Ich habe damals zum Start im DLF kommentiert:
„[Es ist] ein Kompromiss zwischen dem, was technisch machbar, bürgerrechtlich wünschenswert und epidemiologisch notwendig ist. Mit einer deutlichen Gewichtung der Bürgerrechte: Mancher in Robert-Koch-Institut und Gesundheitsministerium hätte sich gewünscht, Daten aus der App zu erhalten. Denn ein digitales Abbild der Infektionsentwicklung hilft dabei, die Verbreitung des Virus besser zu verstehen.
Diese komplexe Debatte scheute die Regierung am Ende. Auch aus Furcht davor, das Vertrauen der Bürger zu verspielen. Eine Diskussion über die Abwägung zwischen 100prozentiger Datensparsamkeit und wissenschaftlicher Erkenntnis: Das hätte sich Deutschland leisten können.“
Das bezog sich allerdings auf den Kontext epidemiologische Analyse, nicht auf Kontaktnachverfolgung durch ex-post Überwachung. Jetzt ist die Debatte da, aber sie ist nicht nur angesichts der API weitestgehend müßig, sondern wird auch – die obige Wortmeldung ist nicht die erste dieser Art – teilweise ohne große Kenntnis der Materie geführt.
Unendliche Information
Unlimited Information Is Transforming Society
Faszinierende Kartierung technologischer Entwicklungen: Nach welchen Mustern verlaufen sie, und umgekehrt, welche Muster sollte man nicht verallgemeinern?
In one sense, the history of the Internet is the opposite of electricity’s: the private sector developed electrical generation, but it took the government to distribute the product widely. In contrast, the government developed the Internet, but the private sector delivered it into our homes—a reminder that casual generalizations about technology development are prone to be false.
Social Media und Vergebungsprozesse
Do No Harm ($)
Das, was wir „Content-Moderation“ nennen, ist bekanntermaßen alles andere als perfekt. Niloufar Salehi nennt im neuen Logic-Magazin das Beispiel Rachepornografie: Ein Opfer muss das entsprechende Material hochladen, damit Facebook ein Wasserzeichen für das Blocken erstellt. Die Betroffenen erfahren aber nicht, ob jemand danach versucht, das Video nochmal hochzuladen. Beweise für Gerichtsverfahren erhalten sie ebenfalls in der Regel nicht.
Sie schlägt deshalb einen anderen Weg vor, im Sinne von „Restorative Justice“, also Vergebungsprozessen. „Wer wurde verletzt? Was braucht diese Person? Wer hat Sorge zu tragen, dass diese Bedürfnisse erfüllt werden?“, sind drei Fragen, die eine solche Herangehensweise stellt. Letztlich geht es darum, bei solchen Fällen geschulte Mitarbeiter einzusetzen, die sich mit den Trauma-Dimensionen von Online-Bösartigkeiten auseinandersetzen.
Das funktioniert nicht bei einem Riesen-Netzwerk. Aber ich kann mit theoretisch vorstellen, dass eine solche Betreuung in einigen Jahren zur Zulassungsvoraussetzung gehören könnte, überhaupt Soziale Netzwerke (die dann reguliert viel kleinere Maximalnutzerzahlen hätten) betreiben zu dürfen.
Tausend kleine Boote
Casey Newton verlässt The Verge und macht einen eigenen Substack-Newsletter. Wer ihn nicht kennt: Sein bisheriger Newsletter „The Interface“ war im Kontext Tech das, was man abgedroschen als „Leseverpflichtung“ bezeichnet. Genau deshalb bin ich verwundert, dass er „nur“ 20 000 Abonnenten hatte. Nicht falsch verstehen: Das ist eine Menge, aber für ein derart relevante, kostenlose Publikation, noch dazu in englischer Sprache… ich dachte, die Nische wäre größer.
Was natürlich nichts daran ändert, dass ich darauf hoffe, dass im Journalismus viele kleine Boote den langsamen Untergang der großen Tanker kompensieren. Und dass ich mit großer Sicherheit ein Abo abschließen werde. Ein ähnliches, älteres Projekt mit Schwerpunkt Social-Media-Plattformen ist das deutsche Social Media Watchblog, das ich Interessierten ans Herz lege. Und auch von mir wird drüben auf dieser Baustelle hier in den kommenden Wochen mehr passieren, allerdings vorerst nicht auf Monetarisierung ausgelegt.
Paradigmenwechsel im UI-Design
Seeing Like an Algorithm von Eugene Wei
Eugene Wei mit einem weiteren TikTok-Essay. Ein bisschen banal erscheinen die Erkenntnisse schon: Wenn „Künstliche Intelligenz“ bedeutet, dass ein Computer sehen lernt, dann folgt TikTok als erstes (?) Netzwerk diesem Prinzip: Design für Datenfütterung, also ein geschlossenes Feedback-Loop, an dem die Software lernen kann. Demnach löst „algorithmen-freundliches Design“ das Prinzip von reibungslosem, „nutzerzentriertem“ Design ab. Damit wird auch die „Followerschaft“ sozialer Netzwerke von einem anderen Paradigma abgelöst: sofware-basierte Interessen.
Dass das banal klingt, heißt nicht, dass es falsch ist. Um seine These zu stützen, muss Wei allerdings herunterspielen, dass Tinder ähnlich funktioniert und die von ihm genannten Verhaltensinformationen auch in Formaten wie Instagram Stories vorhanden sind. Und dass schlicht jedes UX/UI-Design der datenverarbeitenden Industrie an Datenproduktion interessiert sein muss.